Interview mit Prof.Andreas Braun im Jakobsweg Podcast
Vom Hörsaal nach Santiago: Wie eine Matheprüfung und ein Sonnenstrahl das Leben eines Studenten für immer veränderten

Manchmal ist es ein unerwartetes Scheitern, das uns auf unseren wahren Weg führt – für Professor Andreas Braun war es eine nicht bestandene Matheprüfung, die den Anstoß für eine lebenslange Reise auf dem Jakobsweg gab.
Andreas Braun: Vom Hörsaal nach Santiago
Herzlich willkommen zum Jakobsweg-Podcast! In unseren Gesprächen versuchen wir immer wieder, der Seele des Caminos auf den Grund zu gehen. Heute teile ich ein ganz besonderes Gespräch mit dir, das mich persönlich sehr bewegt hat. Mein Gast ist Andreas Braun, ein Mann, dessen Leben auf eine so vielfältige und faszinierende Weise mit dem Jakobsweg verbunden ist, wie ich es selten erlebt habe: Er ist Pilger aus Leidenschaft, engagierter Herbergsvater, angesehener Professor für Betreibswirtschaftslehre und verantwortungsvoller Vereinsvorsitzender.
zur dazugehörigen Podcastfolge:
Schon im Vorgespräch hat mich eine Anekdote ganz besonders neugierig gemacht, denn Andreas’ Weg begann nicht mit einem spirituellen Ruf im klassischen Sinne, sondern mit einer Herausforderung, die viele von uns nur zu gut kennen: einer gefürchteten Prüfung an der Universität. Begleite mich in ein Gespräch über magische Momente, die Grenzen der Logik und die tiefgreifenden Lektionen des Weges.
Der Pakt mit dem Jakobsweg: Eine nicht bestandene Matheprüfung als Auslöser
Manchmal sind es die größten Hürden, die uns auf die unglaublichsten Wege führen. Für Andreas Braun war es eine schier unüberwindbare Wand im ersten Semester seines Studiums: das Fach „Höhere Mathematik“. Er beschreibt seinen damaligen Professor als einen unglaublich intelligenten und netten Menschen, der aber beim besten Willen nicht nachvollziehen konnte, warum seine Studenten die Mathematik einfach nicht verstanden. Nach einer sechsstündigen Klausur kam das ernüchternde Ergebnis: 5,0. Durchgefallen.
Der Respekt vor dem Zweitversuch war riesig, die Angst vor dem Scheitern lähmend. In dieser Situation schloss er einen Pakt mit seiner damaligen Freundin und heutigen Frau, einen jener schicksalhaften Sätze, die man im Nachhinein kaum glauben kann:
„Wenn ich das schaffe, dann gehen wir den Jakobsweg.“
Woher die Idee für den Jakobsweg kam? Andreas kann es sich bis heute nicht erklären. Es war einfach plötzlich da, dieser Gedanke, dieser Ruf, vielleicht von seiner Freundin ins Spiel gebracht, vielleicht aber auch vom Camino selbst. Er weiß es nicht mehr. Was er wusste, war, dass er sich an sein Wort halten musste. Und tatsächlich: Er bestand die Prüfung. Ein Jahr später, 2004, lösten die beiden ihr Versprechen ein und machten sich auf den 800 Kilometer langen Weg nach Santiago. Eine Reise, die ihn bis heute nicht mehr losgelassen hat.
Magische Momente: Wenn der Himmel aufreißt und ein Traum geboren wird
Jeder Pilger, der länger unterwegs ist, kennt sie: diese Momente, die sich tief in die Seele brennen und die man ein Leben lang mit sich trägt. Andreas erlebte seinen ersten großen „Camino-Moment“ auf der Etappe kurz vor Santo Domingo de la Calzada. Die Umstände waren alles andere als magisch. Er war allein unterwegs, denn seine Freundin musste wegen einer „unglaublich furchtbar schlimmen Blase direkt unter der großen Zehe und dem großen Zehenagel“ eine Pause einlegen.
Beladen mit den typischen Anfängerfehlern – zu viel Gepäck in einem zu schweren Rucksack und die falschen Schuhe an den Füßen – kämpfte er sich voran und stellte sich die eine, zermürbende Frage:
„Warum quäl ich mich hier eigentlich?“
In diesem Moment tiefsten Zweifels, als er kurz davor war aufzugeben, bat er innerlich um ein Zeichen, irgendeinen Hinweis, dass er weitermachen sollte.
„Und es war bewölkt und plötzlich riss die Wolkendecke auf und es kam ein Sonnenstrahl durch und ich glaub der hat mich erwischt. Und das war für mich so ein unglaublich magischer Moment.“
Dieser einzelne Sonnenstrahl war die Antwort. Er gab ihm neue Kraft und die Motivation, nicht nur weiterzugehen, sondern sogar schneller zu werden. Es ist eine Erinnerung, die so stark ist, dass er, wie er im Gespräch zugibt, bis heute Gänsehaut bekommt, wenn er nur daran denkt.
Doch es gab noch einen zweiten, leiseren, aber nicht minder prägenden Moment auf dieser ersten Reise. Die Etappe nach O Cebreiro ist bekanntlich steil und lang. Es war schon spät, und eigentlich wollten sie in dem kleinen Ort La Faba gar nicht Halt machen. Doch die Erschöpfung trieb sie in die damals noch ganz neue und wunderschöne Herberge. Später saßen er und seine Frau auf der Steinmauer, blickten hinunter ins Tal und sagten einen Satz, der wie ein Samen in die Zukunft gepflanzt wurde: „Wenn wir irgendwann mal als Hospitaleros arbeiten, dann hier.“
Es sollte vierzehn Jahre dauern, bis aus diesem leisen Wunsch Wirklichkeit wurde und sie als Herbergseltern an genau diesen Ort zurückkehrten. Ein verbindender Moment über Raum und Zeit hinweg.
Camino Frances ab Astorga
Vom Pilger zum Herbergsvater in La Faba
Als Herbergsvater (Hospitalero) erlebt man den Camino aus einer völlig neuen Perspektive. Man wird zum „stationären Pilger“, wie Andreas es treffend nennt. Man muss selbst keinen Meter gehen und bekommt doch jeden Tag „Nachschub“ an neuen Geschichten, neuen Begegnungen und neuen, interessanten Gesprächen. Man ist Teil der Gemeinschaft, aber in einer dienenden Rolle.
Die Seele der Herberge und das morgendliche Ritual
Die Pilger, die in der Herberge in La Faba ankommen, sind vor allem eines: erleichtert. Der Aufstieg von Villafranca del Bierzo ist steil und anstrengend. Doch wenn sie vor der Herberge stehen, spüren viele, dass sie an einem besonderen Ort angekommen sind. Andreas beschreibt, nicht ganz ohne Stolz, den einzigartigen „Zweiklang“: Die Herberge, ein ehemaliges Pfarrhaus, bildet eine bauliche und spirituelle Einheit mit der direkt angrenzenden Kirche. Das ganze Ensemble ist von einer Mauer eingefriedet und strahlt eine immense Ruhe aus.
Neben den offensichtlichen Aufgaben wie dem Putzen gibt es die unsichtbaren Rituale, die einem Ort seine Seele einhauchen. Für Andreas ist das schönste Ritual, morgens um sechs Uhr in der Stille die Kirche aufzuschließen – ein Privileg, das er sichtlich genießt.
„Ich geh dann in die Kirche rein, es ist dunkel […] und da gibt’s nen CD Player und da schalt ich dann die gregorianischen Chöre ein. […] Draußen ist es noch dunkel, man hört so leichte gregorianische Choräle, das ist für mich ein erhebender Moment. Das ist ein Moment, der für mich ist.“
Der Albtraum, die Menschlichkeit und die schönste Belohnung
Doch das Leben als Herbergsvater ist nicht immer nur besinnlich. Andreas erzählt vom „Worst-Case-Szenario“ für jeden Hospitalero: Bettwanzen. Zum Glück nicht in der Herberge, aber eine Pilgerin. Er war mit seiner Frau und seinen drei damals noch kleinen Kindern vor Ort, als eine Pilgerin mit deutlichen Bissspuren am Oberarm ankam. Die Frau war am Boden zerstört und schämte sich zutiefst. Die erste und wichtigste Aufgabe war es, sie „moralisch und seelisch wieder aufzubauen“ und ihr klarzumachen: „Du hast nichts falsch gemacht.“
Dann folgte das pragmatische Notfallprogramm: Alle Kleider in die heiße Wäsche, der Rucksack und Schlafsack in einen schwarzen Sack mit einem speziellen Mittel, alles draußen, nichts in die Herberge rein bringen. Doch der entscheidende Moment kam am nächsten Tag. Die Pilgerin war wie verwandelt. Sie war unendlich dankbar, voller Freude und Motivation und rief zum Abschied, sie würde jetzt nach Santiago „fliegen“. Für Andreas ist genau das der Kern dieser Tätigkeit:
„Erstmal so dieses ‚Oh Gott, Bettwanzen‘, dann aber auch gleichzeitig diese Dankbarkeit, die einem Pilgerinnen entgegenbringen. Das ist schön, es ist ein sehr schönes Gefühl. Und ich glaub, das ist der Grund, warum alle, die Hospitaleros sind, … dass die das machen. Diese Dankbarkeit, die man zurückbekommt.“
Der pilgernde Professor: Was der Jakobsweg mit BWL zu tun hat
Auf den ersten Blick scheinen die Welt eines Professors für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Innovationsmanagement und die staubigen Pfade des Jakobswegs Welten zu trennen. Doch Andreas hat diese Welten auf einzigartige Weise verbunden. Er erkannte, dass der Stress, der Leistungsdruck und die Rastlosigkeit seiner Studierenden genau dem ähnelten, was er damals vor seiner Matheprüfung fühlte. Er wollte ihnen die gleiche heilsame Erfahrung der Entschleunigung ermöglichen.
Mit diesem Anliegen ging er zu seiner „unglaublich experimentierfreudigen Chefin“, die unkompliziert „Ja, warum nicht?“ sagte. Aus diesem kleinen „Ja“ ist inzwischen ein Projekt erwachsen, das nächstes Jahr sein zehnjähriges Jubiläum feiert und bei dem Andreas regelmäßig Studierende auf dem Camino begleitet.
Wenn der Weg Kreise zieht: Das Projekt „Camino Connect“
Eine Frage, die sich bei diesem beeindruckenden Projekt natürlich sofort stellt, ist die nach der Organisation und Finanzierung. Andreas erklärt das einfache, aber wirkungsvolle Modell:
- Die Pilgerreise ist für die teilnehmenden Studierenden komplett kostenlos.
- Ein erheblicher Teil der Kosten wird von seiner Hochschule, der BSP Business and Law School, übernommen.
- Ein weiterer, entscheidender Teil wird über Spenden finanziert, und hier ist eine wunderbare Entwicklung aus dem Projekt selbst entstanden: Studierende, die 2023 mit auf dem Weg waren, gründeten aus Dankbarkeit und Motivation den gemeinnützigen Verein „Camino Connect“.
Das Ziel des Vereins ist es, durch gezieltes Sammeln von Spenden noch mehr jungen Menschen diese wertvolle Erfahrung zu ermöglichen. Wer dieses Engagement unterstützen möchte, findet alle Informationen auf der Webseite des Vereins unter www.camino-connect.de
Was die Magie des Caminos ist
Andreas erklärt die Magie des Weges mit zwei faszinierenden soziologischen Begriffen:
- Communitas: Das Gefühl einer tiefen, schicksalhaften Gemeinschaft. Auf dem Weg entsteht eine atemberaubende Offenheit, in der Menschen ihre Lebensgeschichten teilen – etwas, das im „natürlichen Habitat“ des Alltags kaum noch passiert.
- Liminalität: Ein Zustand der „Status-Entzogenheit“. Auf dem Weg ist es völlig egal, ob du Vorstandsvorsitzender oder Hausmeister bist. Dort laufen einfach nur Peter und Andreas nebeneinander. Diese Befreiung von sozialen Rollen gibt jedem die Chance, sich selbst neu zu entdecken und zu definieren.
Genau diese Erfahrung kann bei der Rückkehr aber auch zum sogenannten „Camino-Blues“ führen: dem Gefühl des Fremdseins in der alten Welt, die sich nicht mitverändert hat. Daraus entsteht eine Sehnsucht, ein Verlangen, auf den Weg zurückzukehren, der für viele zu einer Art positiven Sucht wird.
Ein Leben für den Weg: Die abschließenden Gedanken
Wenn Andreas Braun in 20 Jahren auf sein Leben zurückblickt, wünscht er sich vor allem als eines in Erinnerung zu bleiben: als „der pilgernde Professor“. Sein größter Wunsch ist, dass seine ehemaligen Studierenden dann sagen: „Das war damals eine tolle Erfahrung, und ich hab da was für mein Leben mitgenommen.“
Die wichtigste Lektion, die er selbst auf dem Weg gelernt hat und die ihm im Hörsaal oder in der Geschäftswelt verborgen geblieben wäre, ist der Umgang mit den „kleinen Steinchen, die man manchmal in seinem Schuh findet“. Manchmal muss man akzeptieren, dass sie da sind und drücken. Aber man weiß auch, dass man irgendwann die Schuhe ausziehen und sie wieder loswerden kann. Eine wunderbare Metapher für die kleinen, nagenden Sorgen des Lebens.
Und wenn er der ganzen Welt eine einzige Camino-Erfahrung „verschreiben“ könnte? Seine Antwort kommt ohne Zögern: Minimalismus.
„Ich bin immer wieder erstaunt, mit wie wenig man … ein Leben sein kann. […] Alles, was ich brauche, kann ich auf dem Rücken tragen. Mein Rucksack wiegt weniger als 6 Kilo. […] Um glücklich zu sein, um zufrieden zu sein, braucht man nicht so wahnsinnig viel. Das, was man braucht, gibt einem der Weg.“
Ein kraftvolleres Plädoyer für die Einfachheit und die Konzentration auf das Wesentliche kann es kaum geben. Ich danke Andreas für dieses offene und inspirierende Gespräch.
Buen Camino!
Das Gespräch führte Peter Kirchmann